Design-Professor im Interview: Darum waren Autos früher kleiner

von Christian Sch… 09/08/2024
Szenethema
Design-Professor im Interview: Darum waren Autos früher kleiner

Die Wahrnehmung trügt nicht: Automobile der 70er und 80er Jahre wirken neben den Modellen heutiger Zeit merklich geschrumpft, nahzu klein...

Während ein 45 Jahre alter Golf I in der Länge 3,70 m und in der Höhe 1,61 m maß, ist der neue Golf VIII fast 60 cm länger und knapp 20 cm höher.

Auch die Oberklasse hat sich über die Jahre „aufgeblasen“: Eine Mercedes-Benz S-Klasse der Baureihe W126 ist fast 20 cm kürzer und 10 cm schmaler als ihr Pendant auf dem Jahr 2023. Moderne SUV-Boliden wie der 2,78 Tonnen schwere BMW XM wirken nahezu grotesk überdimensioniert, würde man sie direkt neben einen 7er der Baureihe E23 (Produktion von 1977 – 1986) platzieren.

Sind wir Menschen mit der Zeit gewachsen? Oder sehen wir einfach nur einen (vielleicht) kurzfristigen Trend des 21. Jahrhunderts?
War das Auto-Design früher individueller und sehen heutige Fahrzeuge alle uniform aus? Oder ist unser Blick auf die Vergangenheit nur verklärt?

Antworten auf diese und weitere spannende Fragen gibt Professor Wolfgang Henseler (Foto o.), Dozent für Digitale Medien und intermediales Design an der Hochschule Pforzheim. Der Design-Experte fungiert u.a. auch als Berater für Unternehmen wie Mercedes-Benz, Lufthansa, Porsche und Volkswagen.

Wir sprachen mit Prof. Henseler u.a. über die Historie des Automobildesigns, den Einfluss der Technologie auf Formgebung von Pkw, welche Bedeutung die Farbgebung bei der Entwicklung von Automobilen hat und welchen Faktoren in der Zukunft eine Rolle spielen könnten. Außerdem verrät er im Interview, welche Klassiker ihn am meisten beeindruckt haben und über welche modernen Fahrzeuge man vermutlich auch noch in 50 Jahren spricht.

War das Auto-Design früher individueller?

OCC: Herr Professor Henseler, war das Auto-Design früher individueller und sehen heutige Fahrzeuge alle uniform aus? Oder ist unser Blick auf die Vergangenheit nur verklärt?

Prof. Wolfgang Henseler: "In der Frühzeit des Automobils waren sämtlich Fahrzeuge Handarbeit und es gab sehr viel mehr Hersteller, was zu einer extremen Designvielfalt führte. Mit dem Einzug der Serienproduktion veränderte sich natürlich das Gelage in Richtung uniformeren Aussehens bei günstigeren Fahrzeugpreisen und sehr viele Hersteller verschwanden wieder vom Markt.

In der Nachkriegszeit war die gestalterische Variantenvielfalt der einzelnen Hersteller häufig sehr hoch. Es fehlte noch die unternehmensspezifische Produktsprache – die Signature DNA – die heutzutage einen Mercedes-Benz zu einem Mercedes-Benz, einen Audi zu einem Audi und einen BMW zu einem BMW macht.

Heute häufig zum Leidwesen der Verbraucher, die die Fahrzeuge nur sehr schwer voneinander unterscheiden können. Und nicht nur innerhalb einer Marke, sondern auch markenübergreifend, haben sich die Fahrzeuge aufgrund der Absatzrisikominimierung formal und gattungstechnisch sehr stark einander angenähert, Beispiel SUVs. Was sich gestalterisch gut verkauft, wird schnell kopiert – und das nicht nur auf dem chinesischen Markt.

Der Drang nach Individualisierung ist eine wichtige Komponente menschlichen Daseins und spiegelt sich in den Objekten des Alltags, und damit im Automobil, weiterhin wider und wird in Zukunft durch Hyperpersonalisierung sehr stark zunehmen.

Interessant in diesem Kontext sei noch der Hinweis auf die zur Zeit „aus dem Boden spriesende Vielzahl“ an elektrischen Automobilherstellern. Da fühlt man sich glatt an die Anfänge der Automobilindustrie erinnert."

Vom Raketenauto zum Human-Machine-Interfach: Evolution des Designs

Wie würden Sie die wichtigsten Veränderungen im Autodesign von den Anfangstagen bis heute zusammenfassen - und welche Entwicklungen haben Sie am meisten überrascht?

Professor Wolfgang Henseler: „Die ersten Automobile orientierten sich am Kutschendesign. Dies änderte sich, als Designer begannen, eine spezifische Autosprache zu entwickeln. Die aerodynamischen Einflüsse aus dem Flugzeug- und Rennwagendesign prägten dann das Serienfahrzeugdesign. Anfangs waren es Ingenieure und Künstler wie Ettore Bugatti, die die Formen schufen, später kamen Spezialisten für den Chassisaufbau, die "Coachbuilder", hinzu.

Im 20. Jahrhundert prägten italienische Designhäuser wie Zagato und Bertone das Autodesign. Nach dem Krieg beeinflussten Futurismus und atomgetriebene Raketenautodesigns das Fahrzeugaussehen. Ein Highlight waren die Stromlinienstudien von Marken wie Chrysler oder Alfa Romeo.

Ein großer Wendepunkt war das steigende Sicherheitsbedürfnis. Elektronische Systeme wie ABS und ESP machten Autos schwerer und größer. Die Elektromobilität und Technologien wie LED verändern heute die Formensprache. Wichtig sind auch User Experience Designer, die das Human-Machine-Interface gestalten.

Positiv überrascht hat mich die seit Jahren stattfindende Stilrichtung des „Retro-Designs“, bei dem die Gestalter auf Basis berühmter historischer Fahrzeuge eine moderne Neuinterpretation vornehmen. Hierbei werden die markanten Stildelemente des Urmodells in die Gegenwart übertragen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist der Alfa Romeo Stradale 33.“

Mehr Sicherheit und Komfort brachte mehr Masse und Größe

Oldtimer wirken oft viel schmaler, niedriger und kürzer im Vergleich zu heutigen Fahrzeugen. Wie haben sich das Gewicht und die Größe von Autos im Laufe der Jahre entwickelt - und welche Faktoren haben diese Veränderungen angetrieben?

Prof. Henseler: "Wie bereits erwähnt, waren vorallem das zunehmende Sicherheitsbedürfnis für alle Verkehrsteilnehmer gestalterisch beeinflussend, denn durch sie musste Masse und Gewicht im Fahrzeug untergebracht werden, was die Fahrzeuge in ihren Ausmassen sehr anwachsen ließ. Vergleichen Sie nur einmal einen Ur-Mini mit einem modernen Mini oder einen Fiat 500 der 50er Jahre mit einem der Gegenwart.

Im Exterior-Design brachten Aufprallschutz, grössere Knautschzonen, stärkere ABC-Säulen, Stoßfänger etc. die Fahrzeuge zum Aufblähen und im Interior-Design, wo neben der aktiven Sicherheit, vor allem Themen wie „Komfort“ und „Unterhaltungselektronik“ relevant wurden, kam entsprechend weiterer Volumenbedarf hinzu. Leider sind die Parkplätze nicht immer im gleichen Masse mitgewachsen wie die Fahrzeuge selbst."

"Design-Thinking wird immer wichtiger"

Wie beeinflussen technologische Innovationen die Autoästhetik und die Designphilosophie?

Prof. Henseler: „Technologische Innovationen haben das Autodesign von Anfang an geprägt. Früher stand das ästhetische Erscheinungsbild im Vordergrund, heute jedoch spielt das Design eine weitreichendere, strategische Rolle. In der heutigen Zeit steht nicht mehr nur das physische Produkt im Mittelpunkt des Designs.

Es geht vielmehr um die Schaffung einer ganzheitlichen Nutzererfahrung, der sogenannten „User Experience“. Die Verbindung von Hardware und Software, physischen und digitalen Elementen, beeinflusst maßgeblich die Gestaltung eines Fahrzeugs.

Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Armaturenbrett: Wo früher analoge Rundinstrumente dominierten, finden wir heute häufig große digitale Displays, die individualisierbare Informationen anzeigen und interaktive Funktionen bieten. Darüber hinaus ermöglicht die Vernetzung von Autos die Integration von Apps, Sprachassistenten und anderen digitalen Diensten.

Design-Thinking, ein Ansatz, der die Nutzerbedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, wird immer wichtiger. Dieser Paradigmenwechsel hat direkte Auswirkungen auf die Designphilosophie und -ästhetik von Autos. Ein gutes Beispiel hierfür ist der chinesische Automarkt, der zeigt, dass Design sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden orientieren muss, um erfolgreich zu sein. Es geht also weg vom rein produktzentrierten Denken hin zu einer holistischen Betrachtung, in der das Fahrzeug als Teil eines vernetzten Ökosystems gesehen wird.“

"Ein autonom fahrendes Auto darf nicht wie ein herkömmliches Auto aussehen"

Früher hieß die Devise „Form follows function“, also die Form eines Autos hatte sich der Funktion unterzuordnen. Gilt das heute auch noch? Wie hat das ständige Wechselspiel zwischen Form und Funktion die Gestaltung von Automobilen geprägt?

Prof. Henseler: „Der berühmte Spruch von Louis H. Sullivan, „die Form sollte die Funktion widerspiegeln“, galt sicherlich in den Anfängen der Automobilität und im Zeitalter des mechanischen Funktionalismus. Spätestens seit dem Einzug des Mikroprozessors, der Elektronik und der Blackbox, kann man allerdings die Funktion der Form nicht mehr ansehen – daher auch der Name „Blackbox“.

Deren inhaltliches Wesen wird erst in der Anwendung zum Ausdruck gebracht – siehe das Smartphone, als flache schwarze Scheibe mit seinen Apps als Universalgerät – Form follows Algorithm. Mitte der 80er Jahre, mit dem Einzug des Personal Computers, folgte die Form daher der Metapher oder der Emotion, gemäß dem Satz „Form follows Emotion“, wie es Hartmut Esslinger, der Gründer von frogdesign, einst betitelte, bevor sie in der heutigen Zeit überspitzt gesagt, der KI, also einer künstlichen Intelligenz folgt – Form follows AI.

Wichtig ist es zu verstehen, dass Innovation – aber auch jedes Objekt selbst – einer wesensspezifischen Formensprache bedarf, die deren Eigenschaften adäquat zum Ausdruck bringt. Uns Menschen gibt dies Orientierung in der „Gefahrabwägung des Objekts“. Diese neurowissenschaftliche Erkenntnis spielt auch im Design, bei der Entwicklung einer produkt- oder markenspezifischen Sprache, eine sehr wichtige Rolle, um Akzeptanz für das Neue beim Menschen zu gewinnen.

Hier tut sich der Mensch immer sehr schwer, da wir zunächst das Bekannte, als Metapher, in dem Neuen abbilden wollen, beispielsweise Webseiten auf einem Smartphone, und dann feststellen, dass dies nicht funktioniert, bis wir eine eigenständige, medienadäquate Lösung gefunden haben, sprich Apps anstatt Webseiten. Und schon stellt sich breite Akzeptanz, intensive Nutzung und wirtschaftlicher Erfolg ein – siehe Apples iPhone. Für das Fahrzeugdesign bedeutet dies, ein autonom fahrendes Auto muss eben aussehen wie ein autonom fahrendes Auto und nicht, wie ein herkömmliches Auto, was es heutzutage sehr häufig noch tut!“

Farbgebung orientiert sich am Zeitgeist

Wie hat sich die Farbgebung von Fahrzeugen über die Jahrzehnte hinweg verändert, und welchen Einfluss hatten Trends und Materialien auf diese Entwicklung?

Prof. Henseler: „Farbe hat die tiefenpsychologisch am schnellsten wahrnehmbare Wirkung und spielt daher heutzutage eine immens wichtige Rolle bei Markenpositionierung, Absatz und Differenzierung. Zu Beginn des Automobils war dies allerdings noch nicht der Fall, da die Holzstruktur der Fahrzeuge meist auch deren Farbgebung bestimmte.

Die meisten Fahrzeuge dieser Ära waren, wenn, schwarz gestrichen oder lackiert, nicht nur wegen des berühmten Ausspruchs von Henry Ford „You can have the car in any color as long as it´s black“, sondern auch wegen der Verschmutzung der Fahrzeuge durch nicht asphaltierte Straßen und dem preislichen Vorteil für die Kunden in der Herstellung.

Schon bald aber entpuppte sich Farbe als Differenzierungsfaktor ganzer Nationen; man denke nur an die Nationalfarben der damaligen Rennfahrzeuge. Der zunehmende Drang der Konsumenten nach Differenzierung führte dann sehr schnell dazu, dass die Automobilhersteller begannen, Fahrzeuge in vielen Farben anzubieten. Diese orientierten sich dabei oft am Zeitgeist, genauer an Mode- oder Mobiliartrends der jeweiligen Epoche.

Heutzutage ist Farbgebung bei Automobilen eine Wissenschaft für sich, bei der neben den Color-Experten der Designabteilungen ganze Werkteams bei Chemieunternehmen forschen und sogar künstliche Intelligenz zur richtigen Farbfindung oder Hyperpersonalisierung (individuell auf einen Kunden abgestimmter Lack) eingesetzt wird. Zudem spielen Themen wie Umweltverträglichkeit, Wetterbeständigkeit und Nachhaltigkeit bei Lacken eine immer wichtigere Rolle“.

Italienisches Design wegweisend

Können Sie beschreiben, wie sich Innenraumgestaltung und Ausstattung von Fahrzeugen gewandelt haben und welche Anforderungen heutzutage an sie gestellt werden?

Prof. Henseler: "Bei den allerersten Fahrzeugen wurde der funktionale Aspekt in den Vordergrund gerückt – meist saßen die Insassen im Freien, dem Wetter ausgeliefert - und waren nur durch entsprechende Kleidung geschützt. Bald folgten kutschenartige Ausgestaltungen der Innenräume mit allem, was man aus dem Wohnzimmer kannte. Die bereits erwähnten Coachbuilder schmückten die Innenräume mit jeglichem denkbarem Luxus aus, während die Serienfahrzeuge sich mit möglichst haltbaren Innenraummaterialien begnügen mussten. Die italienischen Designstudios entwarfen futuristische Interiors, die bei vielen auch heute noch Staunen hervorrufen – siehe Lancia Stratos Zero, Lancia Bertone Siblio, Alfa Romeo Carabo etc.

Heutzutage spielen neben Farbe, Material und Oberflächen vor allem Geruchs-, Service-, Sound- und Klangdesign eine Rolle, wenn es um die Gestaltung markenkonformer Produkte und Dienste geht. Ein Porsche muss innen und außen wie ein Porsche klingen und ein Aston Martin sollte sich wie ein Aston Martin anfühlen und riechen.

Tesla läutete mit seiner Reduktionsphilosophie auf das große zentrale Display im Fahrzeuginneren sicherlich einen Trend beim Human Machine Interface ein, dem heutzutage alle Hersteller folgen – auch wenn die Frankfurter Tuningfirma „b+b“ bereits Ende der 70er Jahre diesen Trend vorhergesehen hatte.

Wenn wir uns die Studien und Visionen der großen Hersteller, aber auch der neu in den Markt eintretenden Teilnehmer ansehen, erkennen wir, dass dem Interior-Design, vor allem im Zeitalter autonom fahrender Vehikel, eine immer zentralere Rolle zukommt. Spracherkennung, komplette Konnektivität mit Smartphone und Wohnung sowie die Abbildung unterschiedlichster Nutzungsszenarien, vom Selbstfahren bis Level 5 – komplett autonomes Fahren – müssen von den Gestaltern berücksichtigt werden, um Nutzungserlebnisse zu nachhaltiger Markenloyalität zu führen."

Nachhaltigkeit schon in den 50er Jahren ein Thema

Stichwort Nachhaltigkeit im Design - wie integrieren heutige Autodesigner Nachhaltigkeit und Ökologie in ihre Entwürfe? Und gab es frühere Modelle, die ihrer Zeit voraus waren?

Prof. Henseler: „Nachhaltigkeit und Umweltverträglich haben im Design bereits sehr früh Berücksichtigung gefunden. An der Hochschule für Gestaltung in Ulm wurde in den 50er und 60er Jahren neben modularen Designansätzen auch über Recycling und Wiederverwendung von Komponenten nachgedacht.

Heute werden Aspekte der „Circular Economy“ im Automobildesign von Anfang an mit berücksichtigt. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist die BMW-Studie „CIRC“. Hier wurde der Entwurfsprozess des Automobils von hinten gedacht. Das bedeutet, es wurden bestimmte Fragen zu Beginn des Entwurfsprozesses gestellt: „Wie fügen sich die einzelnen Komponenten in die Kreislaufwirtschaft ein? Welche Materialien müssen wir nutzen, um sustainable zu sein?“ Erst danach ging es an die Konzeption des Fahrzeugs.

Das BASF Creation Center in Ludwigshafen hat zusammen mit Citroën das Konzeptauto „OLI“ entwickelt, bei dem clevere Details und innovative Herstellungsverfahren, wie der 3D Druck von recycelbaren Materialien, neuartige Kunststoffe und innovative Lackgebung zum Einsatz kamen.“

Kühlergrill stiftet Identität

Wie prägen Markenidentität und -image die Designentscheidungen von Automobilherstellern, und haben Sie Beispiele für Modelle, bei denen dies besonders offenkundig ist?

Prof. Henseler: „Die Marken-DNA spielt heutzutage eine immens wichtige Rolle, wenn es um die Gestaltung markenkonformer Fahrzeuge geht. Schon die italienischen Designhäuser hatten früh erkannt, dass markenprägende Stilelemente in ihren Entwürfen eine hohe Attraktivität erzeugen. Zum Beispiel das Double-Bubble-Dach bei Zagato oder die Signature-Lines von Bertone und Gandini.

Ende des 20. Jahrhunderts, als Autos sich durch Plattformstrategien und wirtschaftliche Effizienz ähnelten, erlangte besonders der markenspezifische Kühlergrill als Identitätselement Bedeutung. Dieser wächst heute oft so stark, dass die Front mancher Autos fast nur noch daraus zu bestehen scheint – etwa bei Aston Martin, BMW & Co. Auch Markenembleme, beeinflusst durch das Flat-Design von Computeroberflächen, wurden zweidimensionaler und simpler – siehe die Logos von Mini, Mercedes-Benz, BMW.

Mit der Elektromobilität fangen diese Markenembleme nun an zu leuchten, um sich von Verbrennern abzusetzen – etwa bei „Renault“. Elektromobilität und Digitalisierung verändern Marktpositionierung und Marken-DNA erheblich, weshalb Autohersteller neue Signature-Elemente definieren. Mercedes-Benz und Lotus sind nur einige Beispiele. Spannend ist auch der Einsatz von KI: Data-Scientisten füttern den Algorithmus mit der Marken-DNA - und dieser produziert in Sekundenschnelle markenkonforme Designentwürfe.“

Limitiertes Retro-Design bringt mehr Geld

Beeinflussen Retro-Trends und der Wunsch nach nostalgischen Designs die aktuellen Designkonzepte in der Automobilindustrie?

Prof. Henseler: "Retro-Design ist in den letzten Jahren sehr beliebt geworden, man könnte sogar sagen, es ist „en Vogue“. Der Vorteil von Retro ist, dass es bereits etablierte oder bekannte Werte in die Gegenwart und Zukunft transportiert. Die moderne Interpretation historisch erfolgreicher Modelle erlaubt es, höhere Preise am Markt zu verlangen und zugleich nostalgische Emotionen in die Gegenwart zu übertragen.

Fast jeder Hersteller – von Aston Martin über Alfa Romeo, Audi und BMW bis zu Porsche – hat diesen Trend erkannt und seine Designteams damit beauftragt, entsprechende Modelle zu entwerfen. Wenn das Retro-Angebot dann noch limitiert ist, sind die Kunden bereit, signifikant höhere Summen auszugeben, lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen und das Auto als Wertanlage zu sehen.

In diesem Kontext möchte ich noch auf die aktuelle Wiedergeburt von „Lancia als Marke“ und deren Signature-Line „Pu+Ra“ hinweisen. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine traditionsreiche Marke durch futuristisches Design und Branding in die Zukunft geführt wird. Übrigens beobachten wir in China, wo der Automobilmarkt keine so reiche Historie hat, dass chinesische Automobilhersteller Traditionsmarken wie „Lotus, Volvo oder MG“ erwerben, um das Thema „Retro-Design“ authentisch in ihrer Modellpalette darzustellen. Alternativ werden italienische Designstudios mit einer Retro-Design-Orientierung für das Design neuer Fahrzeuge beauftragt."

Was kommt nach dem Automobil?

Wie sehen Sie die Zukunft des Autodesigns, insbesondere im Hinblick auf autonome Fahrzeuge und elektrische Antriebssysteme? Welchen Trend beobachten Sie und wie könnten die Autos in 20 Jahren aussehen?

Prof. Henseler: "Das Automobildesign durchläuft aktuell einen multidimensionalen Wandel. Neue KI-gestützte Tools ermöglichen den Designerteams, effizienter und umweltfreundlicher ihre Ziele zu erreichen. Neue Visualisierungsoptionen wie Virtual-, Mixed- oder Augmented Reality machen die Fahrzeuge virtuell so real wie möglich erlebbar. SimRacing und Co. ermöglichen es, neben dem Aussehen der Fahrzeuge – dem Look – auch das Fahrverhalten von Konsumenten testen zu lassen, noch bevor diese physisch entwickelt werden.

Herstellungsverfahren wie der 3D-Druck ermöglichen ein schnelleres und ökologischeres Prototyping, beispielsweise beim Valhalla von Aston Martin oder bei Porsche. Bestimmte Design-Prozessschritte und auch Arbeitsplätze entfallen, was die Entwicklung effektiver und effizienter macht. Durch die Digitalisierung verändert sich auch die Ausbildung zum „Transportation- oder Automobildesigner“ rasant. Bildungseinrichtungen müssen diese Veränderungen im Curriculum berücksichtigen.

Es ist auch wichtig, über den aktuellen Stand hinauszudenken und zu überlegen, welche Mobilitätsbedürfnisse in der Zukunft wichtig werden – gemäß der Frage: „Was kommt nach dem Automobil als solchem?“

10 künftige Klassiker

Nennen Sie bitte noch zum Abschluss zehn Fahrzeuge der letzten 20 Jahre, über die man Ihrer Meinung nach auch noch in 50 Jahren spricht und die das Zeug haben, echte Klassiker und Design-Ikonen zu werden.

Prof. Henseler: "Sehr gerne, in alphabetischer Reihenfolge: Alfa Romeo Stradale 33 (il coraggio di sognare), Aston Martin V12 Zagato, Bugatti Centodieci, Ferrari Roma, Kimera Evo 37, Koenigsegg Gemera, Lexus LC, Lotus Evija, Mercedes-Benz G-Klasse, Porsche 911 S/T."

Herr Prof. Henseler, wir bedanken uns herzlich für das Gespräch. (dr)